Ein Dauerton, der ohne Erbarmen pfeift
Von Iris Antelmann. Braunschweig. Die 57-jährige Gifhornerin Jutta Bartsch erlitt zwei Hörstürze. Aber sie hat sich mit dem Tinnitus arrangiert, hat ihn angenommen.
Jutta Bartsch hätte nicht für möglich gehalten, dass ihr so etwas würde passieren können. Ausgerechnet ihr, die sie stets gut gelaunt und gesund durch die Weltgeschichte gegangen war. Im Juli 1997 dann geschah es: Mit 40 Jahren erlitt sie ihren ersten Hörsturz, die Folgeerscheinung: Schwerhörigkeit und Tinnitus. Sechs Jahre später der zweite Hörsturz und Tinnitus. Seitdem hat sich ihr Leben verändert.
Wir treffen die 57-Jährige in Gifhorn, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann in einem netten Häuschen mit beschaulichem Garten wohnt. Angenehm ruhig ist es hier, kein lästiger Autolärm, keine polternden Nachbarn, stattdessen fröhliches Vogelgezwitscher. Jutta Bartsch aber hört noch etwas: ein unangenehmes Pfeifen, ohne Unterlass, ohne Erbarmen – der Tinnitus. „Es klingt, als ob jemand permanent in eine Trillerpfeife bläst.“ Dieser Dauerton ist es, der sie zeitweise bis an den Rand des Wahnsinns getrieben hat und auch heute manchmal noch treibt.
„Das kann einen wirklich verrückt machen. Ich lag nachts schon unendlich viele Stunden wach und konnte nicht schlafen.“ Vor allem nach dem zweiten Hörsturz und Tinnitus sei sie in ein tiefes Loch gefallen, litt gar an Depressionen. „Es war ein ganz großer Kampf, da wieder rauszukommen.“ Die 57-Jährige hat es geschafft – sie hat sich mit dem kleinen Mann, wie sie den Tinnitus liebevoll nennt, arrangiert und ihn angenommen. Wenn sie zu gestresst ist, wenn sie es doch mal nicht auszuhalten droht, helfen verschiedene Entspannungstechniken. „Damit lässt sich das Geräusch in den Hintergrund drängen.“ Hilfe hat sie zudem durch zwei Hörgeräte bekommen – denn ohne diese technischen Hilfsmittel würde Jutta Bartsch nur noch wenig hören. Linksseitig ist sie mittelgradig, rechtsseitig hochgradig schwerhörig. „Die Hörminderung kam durch die Hörstürze. Beide sind während der Arbeit passiert.“ Auslöser, da ist sich die Verwaltungsangestellte der Stadt Gifhorn sicher, war der Stress: „Ich war oft unter Termindruck, immer unter Strom.“ Inzwischen bekleidet sie eine dreiviertel Stelle in einem anderen Fachbereich, dort kann sie ihre Arbeit besser einteilen und fühlt sich nicht ganz so fremdbestimmt. Allen Hörgeschädigten rät die 57-Jährige, sich in bestimmten Situationen zu outen, damit sich das Umfeld auf die Hörminderung einstellen könne. Schließlich seien Hörgeräte Hörhilfen und kein Ersatz für das menschliche Gehör. Deshalb gebe es auch immer wieder Situationen, denen sie nicht gewachsen sei, etwa bei Musikveranstaltungen. „Manche Dinge gehen nicht mehr. Dadurch ist die Lebensqualität leider eingeschränkt.“ Dennoch ist sie dankbar für den technischen Fortschritt in Form der Hörgeräte. „Deren Technik verändert sich rasend schnell, man muss sich sehr damit befassen.“ Bekommt sie ein neues Hinter-dem-Ohr-Gerät, rennt sie Wochen oder gar Monate zum Hörgeräteakustiker für die individuelle, optimale Einstellung. Ein wichtiger Punkt ist für Jutta Bartsch die Unterstützung Gleichgesinnter. Als sie besonders resigniert war, suchte sie bei der Ortsgruppe Braunschweig des Deutschen Schwerhörigenbundes Halt. „Unter Betroffenen hat man ein ganz anderes Verständnis.“ Der Selbsthilfegruppe Gifhorn und Umgebung gehört sie seit gut zehn Jahren an. „Das gibt mir die nötige Kraft.“
Quelle: Braunschweiger Zeitung vom 01.07.2014
Text / Bild: Iris Antelmann